Der erste Marathonläufer

Wer war der erste Marathonläufer? Diese scheinbar so simple Frage ist bei genauerem Hinsehen gar nicht mal so einfach zu beantworten.

Auch wenn der Marathonlauf oft als „Königsdisziplin unter den Laufveranstaltungen“ bzw. als „klassisch“ [1] bezeichnet wird, so handelt es sich dabei um eine relativ junge Sportart. Wer annimmt, dass der Marathon genauso alt wie die Olympischen Spiele ist, liegt damit weit daneben. Die längste Strecke bei den Olympischen Spielen der Antike wurde nämlich im sogenannten „Dolichos“ zurückgelegt und betrug gerade mal knapp 4000 m [2]. Doch bevor man versuchen kann zu bestimmen, wer denn nun der erste Marathonläufer (1)Es handelte sich dabei definitiv um einen Mann. Frauen liefen zwar gerade im 19. Jahrhundert teilweise lange Strecken. Trotzdem dauerte es bis in die 1970er-Jahre, bis sie offiziell an Marathons teilnehmen durften. Die längste Strecke für Frauen bei Olympischen Spielen waren abgesehen von 1928 … weiterlesen war, müssen zwei Fragen geklärt werden: Was ist überhaupt ein „Marathonlauf“ und verstand man darunter schon immer das, was wir heute mit dem Begriff verbinden?

Zum ersten Mal unter dem Namen „Marathon“ oder genauer „Course de Marathon (40 kilomètres)“ tauchte eine Disziplin im Rahmen der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit (2)Davor hatte es allerdings insbesondere in England schon verschiedene „Olympische Spiele“ gegeben, von denen die ersten im frühen 17. Jahrhundert stattfanden. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts veranstalteten „Wenlock Olympian Games“ bzw. deren Begründer Dr. William Penny Brookes … weiterlesen 1896 in Athen auf [3]. Erstmals über 42,195 km (3)In den Internationalen Wettkampfregeln IWR ist die Distanz in Regel 240 für den Marathon auf 42,195 km festgelegt (Gödde et al., 2019). Da bei internationalen Wettbewerben gemäß dieser Regel die Messungenauigkeit nicht mehr als 0,1 % betragen darf, werden die Strecken bei Straßenläufen im … weiterlesen führte der Marathon dann 10 Jahre später in London und zur „offiziellen“ Distanz wurde diese eher obskure Streckenlänge schließlich im Jahr 1921 [4].

Zu den 42,195 km – oder eigentlich vielmehr den 26 Meilen 385 Yards – kam es eher zufällig: Die Strecke in London sollte wie damals üblich ca. 25 Meilen (40,2 km) lang sein. Dann wurde jedoch der Start um einige hundert Meter vorverlegt (4)Was mit ziemlicher Sicherheit nicht daran lag, dass Mary, die Prinzessin von Wales, darauf bestand, dass der Start näher am Windsor Castle stattfinden sollte, so dass ihre Kinder diesen besser verfolgen konnten (Wallechinsky, D. & Loucky, J., 2012). und es mussten einige Streckenänderungen vorgenommen werden. Das führte dazu, dass die Strecke bis zum Stadioneingang genau 26 Meilen lang war. Zusätzlich konnte nicht der ursprünglich geplante Stadioneingang genutzt werden, weshalb im Stadion ungewohnter Weise im Uhrzeigersinn gelaufen werden musste, um zu ermöglichen, dass die Läufer dabei trotzdem noch an beiden Tribünen vorbeikamen. So wurden nochmals 385 Yards auf der Bahn zurückgelegt, was knapp 2/3 einer vollen Stadionrunde entsprach. Diese betrug im riesigen Londoner Stadion, in dem unter anderem auch die Schwimmwettkämpfe ausgetragen wurden, 587 Yards (536 m) [5].

Um zu klären, wer der erste Marathonläufer war, ist es jedoch trotz allem bisher Geschriebenen nötig, in Griechenland zu beginnen. Genauer: mit der Geschichte, die dem französischen Philologen Michel Bréal als Vorbild bei der Erfindung des Marathonlaufs diente. Im Sommer des Jahres 490 v. Chr. waren die Athener überraschend gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Perser in der Schlacht von Marathon siegreich. Direkt im Anschluss an diesen Sieg soll nun laut Plutarch ein Soldat namens Thersippos oder Euklès – da ist sich Plutarch nicht sicher – wie es sich für einen Helden gehört in „voller Kriegsmontur und vom Kampf schwitzend“ losgerannt sein. „Mit letzter Kraft“ habe er nach den rund 40 km (5)bzw. 35 km, je nachdem, ob er die kürzere, bergige oder die längere, relativ flache Route wählte in Athen gerade noch das Rathaus erreichen und die frohe Botschaft überbringen können, nur um im nächsten Augenblick tot zusammenzubrechen [6].

Pheidippides, wie er den Sieg nach der Schlacht von Marathon verkündet haben soll
Pheidippides, wie er den Sieg nach der Schlacht von Marathon verkündet haben soll.
(Luc-Olivier Merson, Public domain, via Wikimedia Commons)

Was trug sich in Wahrheit zu? Ein professioneller Botenläufer namens Pheidippides (6)Laut Martin und Gynn (1979, S. 3-4) ist es wahrscheinlicher, dass er Philippides hieß. Wenn es um die Legende zur Entstehung des Marathonlaufs geht, liest man jedoch häufiger von Pheidippides. scheint tatsächlich eine Rolle gespielt zu haben bei der Schlacht von Marathon. Allerdings lief dieser nicht die „nur“ 40 km von Marathon nach Athen, sondern vollbrachte vielmehr die deutlich beeindruckendere Leistung, innerhalb von zwei Tagen die rund 250 km nach Sparta zurückzulegen. Dort bat er um Unterstützung im Kampf gegen die Perser [7]. Die Spartaner stimmten zwar zu, konnten jedoch aus religiösen Gründen erst einige Tage später losziehen. Als sie dann schließlich in Marathon eintrafen, war die Schlacht schon geschlagen, zum Glück für die Athener trotzdem erfolgreich.

Dass daraufhin ein Bote nach Athen geschickt wurde, um die Nachricht vom Sieg zu überbringen, ist durchaus anzunehmen [8]. Es könnte sich bei diesem somit also um den ersten Marathonläufer gehandelt haben. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass die Geschichte vom plötzlichen Tod dieses Boten, der als Berufsläufer deutlich größere Anstrengungen und Distanzen gewohnt gewesen sein dürfte, der Fantasie eines Autoren der Antike entsprang [9]. (7)Wie – und ob – die antiken Botenläufer für ihren Beruf trainierten ist leider nicht bekannt. Zur Schaffung des „Mythos Marathon“ eignete sich die Legende aber natürlich deutlich besser als die vergleichsweise eher banale Realität.

Gibt man sich damit nun nicht zufrieden, da dieser Lauf weder ein sportliches Ereignis war noch sicher überliefert ist, so ist der nächste Kandidat der Grieche Giorgios Grigoriou. Dieser ist der Erste, von dem schriftlich überliefert ist, dass er die Strecke von Marathon nach Athen im Rahmen eines Trainings- oder Vorbereitungslaufs 1896 in ungefähr 2:50 h zurückgelegt haben soll, wobei in diesem Fall entweder Streckenlänge oder Zeit durchaus angezweifelt werden dürfen [10].

Den ersten von zwei offiziellen Ausscheidungsläufen der Griechen auf der auch bei den Olympischen Spielen gelaufenen Strecke legte dann Charilaos (8)Je nach Quelle lautete sein Vorname auch Kharilaos, Harilaos oder Haralambos. Vasilakos mit 3:18 h am schnellsten zurück [11]. Für Martin und Gynn [12] ist er somit der „first known finisher of a race at the distance commonly called the marathon.” Dadurch ist auch gleich noch ein weiteres Problem gelöst. Durch die Definition des Marathonlaufs als „ein Wettlauf über eine Distanz, die gemeinhin Marathon genannt wird“ können die diversen Läufer, die vor der „Erfindung“ des Marathons schon Strecken in der Größenordnung um 40 km in Wettkämpfen gelaufen waren [13], keine „Marathonläufer“ im eigentlichen Sinne gewesen sein.

Ein weiterer Grieche, nämlich der Tagelöhner Spiridon (oder Spyros) Louis, war schließlich in einer Zeit von 2:58:50 der Sieger des ersten olympischen Marathonlaufs bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen, der über eine Distanz von ungefähr 40 km führte [14]. (9)Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Grieche gewinnen würde, war ziemlich hoch. Sie stellten nämlich 14 von 18 Startern (und 8 von 9 Finishern). Drei der vier „Ausländer“ waren schon über die zweitlängste Distanz bei den Olympischen Spielen in Athen (1500 m) am Start gestanden und hatten dort … weiterlesen Über Louis‘ „Training“ ist folgendes bekannt: Als Jugendlicher hatte er beruflich zusammen mit seinem Vater Wasser transportiert. Dieses mussten sie von Quellen holen, die 14 km von ihrem Zuhause entfernt lagen. Diese Distanz trabte Louis jeweils neben dem von Pferden gezogenen mit Wasser beladenen Wagen her. Später diente er außerdem als Infanteriesoldat. Im eigentlichen Sinne trainiert hatte er jedoch nie [15].

Die während der nächsten Jahre stattfindenden „Marathons“ waren dann meist um die 25 Meilen (40,2 km) bzw. 40 km lang, je nach im Land der Austragung üblichen Maßsystem. Den ersten Lauf über die heutige Marathondistanz bei den Olympischen Spielen 1908 beendete der Italiener Dorando Pietri als Erster. Dies, obwohl er auf den letzten Metern im Stadion mehr taumelnd als laufend unterwegs war und mehrmals hinfiel. Jedoch wurde er später disqualifiziert, da er diese letzten Meter nur dank Unterstützung zurücklegen hatte können. Zum Sieger wurde daher der ursprünglich Zweitplatzierte Johnny Hayes aus den USA erklärt.

In den Jahren nach London wurden zwar zahlreiche Marathons über die „neue“ Distanz ausgetragen. Erst im Jahr 1921 wurden die 42,195 km bzw. 26 Meilen 385 Yards vom „World Records Commitee“ der 1912 gegründeten IAAF dann aber als offizielle Distanz für den olympischen Marathonlauf festgelegt [16].

 

Quellenangaben

[1] Bartel (2008, S. 1 bzw. S. 110)

[2] Sinn (2004, S. 143)

[3] Philémon (1896)

[4] Lennartz (1998, S. 70-72)

[5] Wilcock (2008)

[6] Plutarch nach Giessen (2010, S. 11)

[7] Giessen (2010, S. 33-34)

[8] Giessen  (2010, S. 42)

[9] Giessen (2010, S. 47)

[10] Lennartz (1998, S. 59)

[11] Lennartz (1998, S. 60)

[12] Martin und Gynn (2000, S. 18-19)

[13] Lennartz (1998, S. 57-59)

[14] Lennartz (1998, S. 61)

[15] Martin und Gynn (2000, S. 17-18)

[16] Lennartz (1998, S. 70-72)

 

Literaturverzeichnis

Bartel, C. (2008). Der Marathonlauf in Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung: Anfänge, Teilung, aktuelle Entwicklungen. VDM Verlag Dr. Müller.

Giessen, H. W. (2010). Mythos Marathon: Von Herodot über Bréal bis zur Gegenwart. Landauer Schriften zur Kommunikations- und Kulturwissenschaft: Bd. 17. Verlag Empirische Pädagogik.

Gödde, E., Hamm, F. O., Hartwig, H., Hohmann, N., Neuer, F., Tautermann, G., & Hartz, K. (2019). Internationale Wettkampfregeln -IWR-: Ausgabe 2020-2021 ; – Stand 1 November 2019 –. Abruf unter https://www.leichtathletik.de/fileadmin/user_upload/12_Service/Wettkampforganisation/01_Bestimmungen_Satzung_Vordrucke/Wettkampfbestimmungen/IWR_Internationale_Wettkampfregeln.pdf

Krieger, J. (2012). Cotswold, Much Wenlock, Morpeth – “Olympic Games” before Pierre de Coubertin. In K. Lennartz, S. Wassong & J. Buschmann (Hg.), Schriftenreihe Carl und Liselott Diem-Archiv: Bd. 4. Olympia: Deutschland – Großbritannien: Beiträge zu den Olympischen Spielen 2012 in London. Deutsche Sporthochschule Köln / Carl-und Liselott-Diem-Archiv. Abruf unter https://www.researchgate.net/publication/315784630_Cotswold_Much_Wenlock_Morpeth_-_Olympic_Games_before_Pierre_de_Coubertin

Lennartz, K. (1998). Die Leistungsentwicklung in der Vor- und Frühgeschichte des Marathonlaufs – Bestzeiten und Streckenlänge in der Phase des Übergangs vom späten Pedestrianismus zur Amateurleichtathletik. In N. Gissel (Hg.), Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft: Bd. 94. Sportliche Leistung im Wandel: Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 22. – 24.9.1997 in Bayreuth (1. Aufl., S. 57-75). Czwalina.

Martin, D. E., & Gynn, R. W. H. (1979). The marathon footrace: Performers and performances. Charles C Thomas.

Martin, D. E., & Gynn, R. W. H. (2000). The Olympic marathon: The history and drama of sport’s most challenging event. Human Kinetics.

Philémon, T. (1896). Jeux olympiques, Athènes, 5-15 avril 1896: Programme détaillé pour les sports athlétiques et la gymnastique / sous la prés. de Monseigneur le Prince Royal de Grèce. Athen. Abruf unter https://library.olympic.org/Default/doc/SYRACUSE/66864/jeux-olympiques-athenes-5-15-avril-1896-programme-detaille-pour-les-sports-athletiques-et-la-gymnast

Sinn, U. (2004). Das antike Olympia: Götter, Spiel und Kunst (2., durchgesehene Auflage). Beck.

Wallechinsky, D. & Loucky, J. (2012). The complete book of the Olympics (2012 ed.). London: Aurum Press.

Wilcock, B. (2008). The 1908 Olympic Marathon. Journal of Olympic History, 16(1), 31–47. Abruf unter http://isoh.org/wp-content/uploads/2015/03/177.pdf

Fußnoten

Fußnoten
1 Es handelte sich dabei definitiv um einen Mann. Frauen liefen zwar gerade im 19. Jahrhundert teilweise lange Strecken. Trotzdem dauerte es bis in die 1970er-Jahre, bis sie offiziell an Marathons teilnehmen durften. Die längste Strecke für Frauen bei Olympischen Spielen waren abgesehen von 1928 (800 m) bis 1956 die 200 m. Ab 1960 war es ihnen endlich erlaubt, wenigstens 800 m zu laufen, ab 1972 1500 m und erst 1984 war der Frauenmarathon zum ersten Mal olympisch. Die 5000 m (1996) und 10000 m (1988) der Frauen wurden sogar noch später zu olympischen Disziplinen (Wallechinsky & Loucky, 2012).
2 Davor hatte es allerdings insbesondere in England schon verschiedene „Olympische Spiele“ gegeben, von denen die ersten im frühen 17. Jahrhundert stattfanden. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts veranstalteten „Wenlock Olympian Games“ bzw. deren Begründer Dr. William Penny Brookes inspirierten Pierre de Coubertin zur Wiederbelebung der antiken Olympischen Spiele auf einer internationalen Bühne (Krieger, 2012).
3 In den Internationalen Wettkampfregeln IWR ist die Distanz in Regel 240 für den Marathon auf 42,195 km festgelegt (Gödde et al., 2019). Da bei internationalen Wettbewerben gemäß dieser Regel die Messungenauigkeit nicht mehr als 0,1 % betragen darf, werden die Strecken bei Straßenläufen im Allgemeinen um 0,1 % länger geplant. Dies soll verhindern, dass bei allfälligem späterem Nachmessen festgestellt wird, dass die Strecke zu kurz ist. Die Länge der meisten heute ausgetragenen Marathonläufe beträgt somit eigentlich 42,237 km (+/- 42 m).
4 Was mit ziemlicher Sicherheit nicht daran lag, dass Mary, die Prinzessin von Wales, darauf bestand, dass der Start näher am Windsor Castle stattfinden sollte, so dass ihre Kinder diesen besser verfolgen konnten (Wallechinsky, D. & Loucky, J., 2012).
5 bzw. 35 km, je nachdem, ob er die kürzere, bergige oder die längere, relativ flache Route wählte
6 Laut Martin und Gynn (1979, S. 3-4) ist es wahrscheinlicher, dass er Philippides hieß. Wenn es um die Legende zur Entstehung des Marathonlaufs geht, liest man jedoch häufiger von Pheidippides.
7 Wie – und ob – die antiken Botenläufer für ihren Beruf trainierten ist leider nicht bekannt.
8 Je nach Quelle lautete sein Vorname auch Kharilaos, Harilaos oder Haralambos.
9 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Grieche gewinnen würde, war ziemlich hoch. Sie stellten nämlich 14 von 18 Startern (und 8 von 9 Finishern). Drei der vier „Ausländer“ waren schon über die zweitlängste Distanz bei den Olympischen Spielen in Athen (1500 m) am Start gestanden und hatten dort die Plätze 1-3 belegt (Martin & Gynn, 1979, S. 6). Im Marathon stiegen sie nach 23, 32 bzw. 37 km aus, wobei zwei von ihnen bei Halbzeit noch die ersten beiden Plätze belegt hatten. Der Ungare Gyula Kellner beendete den Marathon auf dem dritten Rang (Lennartz, 1998, S. 61).

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